Filmkritik und Trailer: „System Error“
Ein Film mit Leuten und für Leute, die an unendliches Wachstum glauben (aber auch für alle, die daran zweifeln).
Dokumentarfilmer Florian Opitz untersucht in seinem neuen Kinoreport „System Error“ die Frage, ob wir weiter auf ständiges Wirtschaftswachstum setzen können, oder ob wir uns damit in eine fatale Sackgasse hinein manövrieren.
Es beginnt mit der Ultraschallaufnahme eines Embryos im Mutterleib. Das kleine Wesen wächst gerade zu einem richtigen Menschen heran. Bald wird es geboren, ist ein Baby, entwickelt sich vom Kind zum Jugendlichen, und irgendwann ist es dann ausgewachsen. Erwachsen, sozusagen. So funktioniert es in der Biologie. Unsere Wirtschaft dagegen hängt an der Idee vom unendlichen Wachstum. Erwachsensein heißt dort Stillstand. Jedes Jahr ein paar Prozente Wachstum im Bruttosozialprodukt, so soll und so muss es ständig weitergehen. Jeden Tag und auf allen Kanälen hören wir von den führenden Politikern und den Wirtschaftsbossen der westlichen Länder die Litanei vom Wunder Wachstum. Ohne Wachstum, so wird gesagt, bröckelt unser Wohlstand. Aber ist ein Unendlich-Weiterwachsen möglich auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen? Es sind nicht nur Ökologen oder irgendwelche Umwelt-Romantiker, die daran zweifeln. Bereits in den 70er-Jahren sorgten die internationalen Wissenschaftler des Club of Rome mit ihrer Veröffentlichung „Die Grenzen des Wachstums“ für weltweites Aufsehen, und bis heute äußern seriöse Ökonomen begründete Skepsis am Wachstumsdogma.
Fehler im System?
Der Dokumentarfilmer Florian Opitz – bekannt vor allem für seine Grimmepreis-prämierten Filmreports „Der große Ausverkauf“ (2007) und „Speed – auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (2012)“ – geht in seinem neuen Kinofilm „System Error“ der Frage nach möglichen Fehlern im Wachstumssystem nach. Er lässt führende Wirtschaftsführer zu Wort kommen, geht mit der Kamera nach Brasilien, wo enormes Wirtschaftswachstum mit der scheinbar unaufhaltsamen Zerstörung gigantischer Regenwaldgebiete am Amazonas bezahlt wird, und er schaut sich beim Flugzeugbauer Airbus um. Dort schwärmt man vom riesigen Wachstumsmarkt China, wo jedes Jahr 10 bis 15 neue Flughäfen gebaut werden und wo man vom Fliegen für viele weitere Abermillionen Menschen träumt.
Gläubige Wirtschaftsführer
So weit, so gut. Vieles davon ist bekannt. Will man Neues erfahren, muss man im Film genauer hinhören. Eine ganze Armada hochrangiger und einflussreicher Persönlichkeiten schwärmt hier von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten des ewigen Wachstums – unter ihnen Anthony Scaramucci, New Yorker Hedgefonds-Eigentümer und kurzzeitig Berater von US-Präsident Donald Trump (Foto oben); Simon Kennedy, Leiter des Londoner Büros von Bloomberg News; Eric Chen, Präsident von Airbus China;, Andreas Gruber, Chefinvestor der Allianz; Markus Kerber, Cheflobbyist der Deutschen Industrie, oder Dirk Heitmann, Chief Digital Officer bei IBM Deutschland. Natürlich können sich diese Leute kein Ende des Wachstums vorstellen. Überraschend aber ist, dass fast jeder der befragten Wirtschaftsführer und Unternehmer im Lauf des Interviews irgendwann an den Punkt kommt, wo er vom „Glauben“ spricht. Man „glaubt“ an ewiges Wachstum. Unwillkürlich fühlt sich da der Zuschauer an den bedenkenlosen mittelalterlichen Glauben an Kirche und Gott erinnert, der das Bewusstsein der Menschen beherrschte, bevor die Aufklärung kritisches und wissenschaftliches Denken einforderte. Wird jetzt wieder interessengesteuerte Ideologie vor rationale Einsicht gesetzt? Einer hat natürlich alles schon vorher gewusst. Zwischen die Zitate setzt Florian Opitz immer wieder Zitate aus dem „Kapital“ von Karl Marx, die den Jetzt-Zustand und den Zwang zum Immerweiterwachsen im Kapitalismus bereits vor 150 Jahren schriftlich fixiert haben. Eine Frage des Systems. Berechenbar in der Logik der Marxschen Gesellschaftstheorie. Aber auch ein Umstand, der viele Kritiker gegen den Film aufbringen wird, die ihm allzu gern das Totschlags-Etikett der „Verschwörungstheorie“ anhängen wollen. Aber mal ehrlich: Was kann Opitz dafür, wenn sich heutige Wirtschaftsführer aufführen, als würden sie die Marxschen Erkenntnisse genauestens befolgen – strenger und authentischer als jeder Möchtegern-Sozialist?
Wir alle stecken drin
Dabei geht es bei der Wachstumsfrage gar nicht nur um den sprichwörtlichen bösen Kapitalisten oder um die viel kritisierte Gier, sondern um ein System, in dem wir alle stecken und das für unser aller Wohlergehen sorgen soll. Eigentum, ausreichende Ernährung, bezahlbarer Wohnraum, Altersvorsorge. Alles hängt vom Umstand ab, dass alles immer mehr wird. Und was man dafür in Kauf nimmt und wie man/wp weiteres Wachstum definiert, klingt im Film auch durch: Bricht ein Feuer aus und die Feuerwehr rückt zum Löschen an, meint einer der Wachstums-Apologeten, würde dieser Einsatz auch ins Bruttosozialprodukt einzahlen. Denkt man diesen Ansatz weiter, heißt das: In jeder Zerstörung liegt der Kern für Wachstum, schon bevor an Wiederaufbau gedacht wird. Was heißt das erst für Krieg, Umweltzerstörung und die Vernichtung ganzer Volkswirtschaften? Alles notwendig, um die Wachstums-Maschine am Laufen zu halten und ständig mit neuer Nahrung zu versorgen? Was ist, wenn irgendwann keine Bodenschätze mehr auszuheben sind, kein Wiederaufbau mehr möglich, die Erde atomar verseucht wurde oder einfach kein Sauerstoff zu Atmen mehr da ist? Bildet das Ende unseres Lebensraums schlichtweg den Nährboden für neue Wachstumsbereiche? Als einer der wenigen Systemkritiker kommt im Film der britische Wirtschaftswissenschaftler Tim Jackson zu Wort, Autor des Buches „Wohlstand ohne Wachstum“. Jeder der nachdenkt, sagt Jackson in die Kamera, weiß, dass es ewiges Wachstum nicht geben kann. Irgendwann wird es so riesig, dass es sich gegen dich wendet und verschlingt.
So ist „System Error“ kein Film, nach dem man das Kino mit einem beruhigten Bauchgefühl verlässt. Michael Eckert
Foto: © Port au Prince Pictures 2018