Der Himmel über Hamburg
Regisseur Wim Wenders erhält den Douglas-Sirk-Preis 2017. Eine längst überfällige Ehrung
Ein Blick zurück auf „Der amerikanische Freund“. Wim Wenders drehte den Film 1977 in Hamburg, und wer ihn jetzt anschaut, entdeckt ein St. Pauli, das es so nicht mehr gibt. Der Kameraschwenk auf Fischmarkt und Elbe öffnet eine Weite, die an ein Landschaftsbild oder an einen amerikanischen Western denken lässt. Bruno Ganz steht auf dem Balkon des heruntergekommenen Altbaus und sieht herunter auf die riesige, mit Kopfsteinen gepflasterte freie Fläche mit den wenigen Gebäuden, die der Feuersturm des Zweiten Weltkrieges verschont hat. Darüber der weite Himmel – und als Fixpunkte vor dem Haus: der leuchtend rote VW-Käfer und Lisa Kreuzer in ihrer ebenso roten Jacke. Sie und ihr Film-Sohn Daniel schauen zurück nach oben zum Balkon. Daniel formt aus seinen Händen ein Fernrohr – oder simuliert er ein Kameraobjektiv? Als wollte der kleine Junge die Szenerie ebenfalls filmen, mit einem Gegenschuss nach oben.
Immer wieder nimmt „Der amerikanische Freund“ derartige Bezüge auf die Grundlagen des Filmemachens: Wirklichkeit wahrnehmen, Szenerien inszenieren, Bilder erstellen. Der Schlüssel zum Kino des Wim Wenders. Fast jede Einstellung reflektiert die Geschichte ihrer Entstehung: das Handwerkliche, aber auch die Faszination für Wenders Vorbilder: große Regisseure wie John Ford oder Nicholas Ray, „Maler wie Edward Hopper, dokumentarische Fotografen wie Walker Evans. Frieda Grafe schrieb damals über Wenders: Seine Filme fangen alle immer an in Amerika“ – und das war keinesfalls nur geografisch zu verstehen.
Geboren ist Wim Wenders als Ernst Wilhelm Wenders am 14. August 1945 in Düsseldorf, nur drei Monate nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Deutschland ist besetzt – und dennoch befreit. Von sich selbst. Schwer gezeichnet von den Jahren der Nazi-Diktatur. Ein zerrissenes Land, eine schizophrene Situation. Wer hier aufwächst, benötigt eine neue Identität. Wie der fälschlich Verdächtigte in einem Kriminalroman. Wenders und viele seiner Altersgenossen suchen nach Orientierung in den Krimis von Raymond Chandler, Dashiell Hammett oder Patricia Highsmith, in der Blues- und Rockmusik – und im Kino. Besonders die amerikanischen Filme und die Musik sind hilfreich, denn ihr Sound, ihre Dramaturgie wie auch ihre Visualität sind weiträumiger und sinnlicher als die restaurativen deutschen Heimatfilme und deren Schlager.
Klassische Western öffnen den Horizont, bieten visuelle Freiheit. Sie spielen in scheinbar unendlichen Landschaften und erzählen vom Suchen. Meist nach einer Person; einem Familienmitglied oder einem verhassten Gegner. Aber das ist nicht entscheidend. Wichtig ist der Weg, den die Protagonisten auf ihrer Suche durchlaufen. Immer verbunden mit der Gefahr, sich unterwegs zu verlieren. Große Gefühle äußern sich in kleinen Gesten. In John Fords Western „The Searchers“ will John Wayne mit einem schwedischen Einwanderer über dessen Sohn sprechen, der auf einer solchen Suche umgekommen ist. Der Schwede (gespielt von John Qualen) zeigt mit seiner Tabakpfeife über den weiten Horizont und sagt traurig: „Dieses Land…“. Mehr nicht. Dieses Land gibt, dieses Land nimmt. Ökonomischer kann man die Trauer eines Vaters nicht erzählen.
Das Land des jungen Wim Wenders ist ein Deutschland, das hinter der Pose des Wirtschaftswunders tief greifende Brüche kaschiert. Sich hier einzurichten, fällt vielleicht ebenso schwer wie in der zivilisationsfeindlichen Weite des Wilden Westens. Nicht jeder kann sich hier anpassen. Wenders bricht sein Soziologiestudium ab, will Maler werden, geht 1966 nach Paris. Dort ist die cinématèque francaise zuhause. Die weltweit einmalige Einrichtung ist das intellektuelle und emotionale Epizentrum der jungen Filmemacher und Theoretiker der nouvelle vague. Truffaut, Chabrol, Godard, Rohmer und die anderen holen sich hier ihre Filmbildung. In bis zu fünf Vorstellungen täglich gibt es die größten Schätze der Kinogeschichte wie auch der Gegenwart zu entdecken, und hier findet auch Wenders seine Berufung. 1967 beginnt er ein Studium an der gerade eröffneten Hochschule für Film und Fernsehen in München. Nebenher schreibt er Texte über Musik und Film für die Süddeutsche Zeitung, den Spiegel und für die Zeitschrift Filmkritik.
Als Filmemacher tritt Wenders an, dem Kino die Wahrhaftigkeit zurückzugeben. Nochmal Frieda Grafe: „Handlung ist bei Wenders die Bewegung zwischen Orten.“ Der junge Regisseur nutzt dazu die Bildhaftigkeit der populären Musik. In seinem Hochschul-Abschlussfilm „Summer in the City“ lässt Wenders 1971 einen entlassenen Strafgefangenen, gespielt von Hanns Zischler, die wieder gewonnene Freiheit erkunden. Er flieht vor seinen ehemaligen Komplizen, wandert erst durch München, dann durch Berlin im Rhythmus des Titel gebenden Songs der Lovin’ Spoonful. Wie er nehmen wir die Straßen ganz neu wahr. Die zugeschneiten Autos, die Musik von den Kinks und The Troggs…
„Summer in the City“ gibt die Richtung vor. Wenders nachfolgende Autorenfilme „Alice in den Städten“, „Falsche Bewegung“ und „Im Lauf der Zeit“ beschreiben quasi dokumentarisch Reisen durch ein unbekannt anmutendes Deutschland. Als ob das Hinschauen auf das eigene Land erst wieder gelernt werden muss. Ein Zuhause finden die Wenders-Helden nur vorübergehend, in flüchtigen Stationen oder in dem Auto, das die Protagonisten auf ihrer Reise trägt. Damit trifft Wenders den Nerv seiner Generation, die sich schwer tut mit dem Begriff „Heimat“. Nicht nur in Deutschland. Die Nachbeben des Weltkrieges reichen über weite Teile des Globus, und „Der amerikanische Freund“ wird auch international ein Erfolg. Das ermöglicht dem jungen Filmemacher aus Deutschland den Sprung nach Amerika. Er begleitet das Sterben seines Freundes und Vorbildes Nicholas Ray mit der Kamera („Nick’s Film“).
Aber das darauf folgende, von Francis Ford Coppola produzierte Biopic „Hammett“ ist ein Fehlschlag. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen des Kinomoguls Coppola und des deutschen Autorenfilmers. Wenders muss sich wieder neu finden. In „Der Stand der Dinge“ verarbeitet er 1982 die Erfahrung der missglückten Hollywood-Expedition. Erst danach kann er wieder in den USA filmen: „Paris, Texas“ (1984) – die Suche nach einer Frau, einer verlorenen Liebe in einem riesigen fremden Land. Ry Cooder komponiert den Soundtrack dazu. Ein Hit. Und für Wenders der endgültige Durchbruch zum weltweit beachteten Star-Regisseur. Dann die Rückkehr nach Deutschland: „Der Himmel über Berlin“ (1987), der Blick eines Weitgereisten von oben auf die damals noch eingesperrte, geteilte Großstadt. Melancholisch, und auch neugierig. Wenders ist kein filmischer Abenteurer wie Herzog und kein exzessiver Rebell wie Fassbinder. Er ist ein Forscher des Sehens. Archäologe und Astronom zugleich. Er spürt den Schätzen der Vergangenheit nach und er blickt in den Kosmos des Seienden. Sinnlich wahrnehmen ist die Voraussetzung zum Verstehen. Er sucht das Vertraute im Fremden.
Dreißig Jahre sind seither vergangen, 22 weitere Kinofilme hat Wenders in dieser Zeit gedreht (Musikvideos, TV- und Kurzfilme sowie Episoden nicht eingerechnet). Darunter viele Dokumentarfilme, die vom gleichen Geist getragen sind wie die Spielfilme: Sie wollen nicht zeigen und erklären, sondern sehen und entdecken.
Wenders Spielfilm-Helden sind immer noch auf der Suche, auch wenn sie sich dazu nicht mehr unbedingt auf eine äußere Reise begeben müssen. Der Autor Tomas in „Everything Will Be Fine“ (gespielt von James Franco, 2015) ist äußerlich etabliert, innerlich von Schuldgefühlen getrieben, der namenlose Mann und die namenlose Frau in “Die schönen Tage von Aranjuez“ versuchen im Dialog, die Sinnlichkeit des Sommers zu erfassen.
Es sind Filme, die auch von der Unmöglichkeit erzählen, sich dauerhaft an einen Partner zu binden. In den Beziehungen gibt es ebenfalls nur Stationen. Augenblicke, die zu einem Moment filmischer Wahrheit werden. In Wenders neuen Film „Submergence“ (Kinostart 15. Februar 2018) geht es um ein Paar, das räumlich getrennt und dennoch sinnlich miteinander verbunden ist. Die Wissenschaftlerin und der Agent, der sich als Wasserbauingenieur ausgibt. Beide haben beruflich mit dem Meer zu tun. Ein neuer Schauplatz für Wenders. Er taucht ab in die See, dorthin, wo die Ursprünge des Lebens liegen. Wie hat alles angefangen, und wie wird es enden?
Für das lange visuelle Forschen in Sachen Kino erhält Wim Wenders den diesjährigen Douglas-Sirk-Preis von Filmfest Hamburg.
Ein Preis, ein Name, der auch mit dem Cineasten Wim Wenders verbunden ist: Douglas Sirk. 1897 als Detlef Sierck und als Kind dänischer Eltern in Hamburg geboren, drehte er ab 1934 acht Filme für die Ufa, was ihm auch die (unwillkommene) Achtung von Nazi-Propagandaminister Goebbels einbrachte. Dennoch heiratete Sierck 1937 die jüdische Schauspielerin Hilde Jary und floh – wie vor ihm sein berühmter Kollege Fritz Lang – aus Deutschland. In Hollywood machte sich Sierck unter dem Namen Douglas Sirk vor allem in den Fünfziger Jahren einen Namen. Mit kraftvollen Melodramen wie „Was der Himmel erlaubt“ (1955) ,„In den Wind geschrieben“ (1956) oder „Zeit zu leben, Zeit zu sterben“ (1958). Wim Wenders bewundert an Douglas Sirk vor allem den „unverkennbar und außerordentlich ausdrucksvollen visuellen Stil“. Die Helden von Sirks Geschichten, schreibt er, seien Gefangene der Regeln, mit denen sich die amerikanischen Gesellschaft selbst zugrunde richte: „Geld, Macht, Ehrgeiz, Drogen… Der Amerikanische Traum wirkt hier nur noch zerstörerisch und führt zu einer Verwahrlosung der Sitten.“ (aus: Wim Wenders, Die Pixel des Paul Cézanne und andere Blicke auf Künstler, erschienen im Verlag der Autoren.)
Diese Analyse – eine Vorwegnahme der Situation im heutigen Trump-Amerika – hätte Douglas Sirk sicher gefallen. Und sollte der 1987 verstorbene Altmeister noch auf einer Wolke im Himmel über Hamburg schweben und der Verleihung des nach ihm benannten Preises in seiner Geburtsstadt zugesehen haben, wird ihm ganz sicher ein zufriedenes Lächeln übers Gesicht gehuscht sein. Michael Eckert
Beitragsbild: ©Alamode, Submergence