„Cow“ von Andrea Arnold feiert Premiere beim Filmfest Hamburg
Dokumentarfilm-Debüt einer bemerkenswerten Filmemacherin
Der Dokumentarfilm „Cow“ der britischen Filmemacherin Andrea Arnold feierte beim Filmfest Hamburg am 01. Oktober 2021 seine Deutschlandpremiere. Über 90 Minuten führt das neueste Werk Arnolds in den Alltag der Milchkuh 11 29, auch Luma genannt. „Cow“ ist der erste Dokumentarfilm Andrea Arnolds.
Ein unsentimentaler, zugleich liebevoller Blick auf das Leben eines Nutztieres
„Cow“ beginnt auf einer britischen Farm mit der Geburt eines Kalbes. Das schwarz gefleckte Holstein-Rind Luma wird zum fünften Mal Mutter. Bei der Niederkunft wird nachgeholfen und mit einem Seil wird, den Kopf voraus, das neue Leben zur Welt gebracht. Nach einem zähen Ringen fällt das Kalb auf den mit Stroh gepolsterten Stallboden. Luma – die anstelle eines Arschgeweihes ihre ID-Nummer „11 29“ auf dem Hintern trägt – wendet sich ihrem Neugeborenen zu. Ein Mädchen, die Freude über den Erfolg ist kurz, aber groß.
Die Kuhmutter leckt das Kalb sauber, recht schnell wagt jenes erste Gehversuche und tastet sich instinktiv, jedoch noch unbeholfen an Lumas Euter. Doch die erste Mahlzeit wird von einem Farmer aus der Flasche verabreicht.
Dann geht alles ganz schnell. Das Neugeborene wird aus dem Stall herausgeführt. Luma bleibt im Stall zurück und von nun an gehen Mutter und Tochter getrennte Wege. 11 29 hat nach wenigen Minuten ihren Auftrag als Mutter erfüllt. Nur wenig Zeit bleibt ihr, ihrem verständlichen Trennungsschmerz Luft zu machen und sie muss unmittelbar wieder ihrer Beschäftigung als Milchkuh nachgehen. Ein monotoner Alltag zwischen Stall und Melkstation.
Währenddessen wird das Kalb in einem separierten Gehege dazu erzogen, Milch aus einem Eimer zu trinken. Zunächst hat es seinen eigenen Eimer, später wird es mit Altersgenossen zusammengeführt. Nun wird gemeinsam aus einer länglichen Wanne genuckelt. Von vornherein wird alles radikal durchrationalisiert. Schließlich geht es in diesem Farmbetrieb ums Geschäft.
Nach diesem zerrüttenden Einstieg werden Luma und das Kalb noch einige Monate von der Kamera begleitet. Der Dokumentarfilm bildet in 90 Minuten in etwa ein Jahr ab. Für Luma verändert sich im Laufe dieses Jahres neben den Jahreszeiten nicht viel. Immer wieder wird sie gemolken und wieder zurück in den Stall gebracht. Sie wird untersucht, wird für gesund befunden und wird wieder schwanger, wieder ein weibliches Kalb zur Freude des Familienbetriebes.
Das Kalb wird währenddessen auf die Nutzung in der konventionellen Milchproduktion vorbereitet. Dabei wiederfahren ihr einige Dinge, die man beim Menschen als Jugendsünden einordnen würde. Sie wird aus ihrem Zuhause gerissen, am Ohr gepierct und am Hintern tätowiert – Jugendsünden der anderen Art.
Bei „Cow“ sind Licht und Schatten stets eng beieinander
Klingt alles sehr düster und deprimierend. Und ja – der Film beschäftigt auch über seine Laufzeit hinaus. Denn er offenbart nüchtern, was dahintersteckt, wenn wir allmorgendlich unsere Milch aus dem Supermarkt genießen. Dahinter steckt harte Arbeit, sowohl für die Kühe als auch für die Farmerinnen und Farmer.
Aber der Film hat auch erheiternde Momente. Da passiert etwas, wenn man über anderthalb Stunden unkommentiert Kühe beim Sein betrachtet. Man baut eine Verbindung zu den Tieren und ihren Lebensbedingungen auf, meint nach einer Weile, sie verstehen zu können. Und das ist nicht selbstverständlich.
Wenn Regie und Kamera gemeinsam Momente von Wahrheit einfangen
Andrea Arnold ist mit dem Dokumentarfilm „Cow“ ein beeindruckendes Werk gelungen, welches dem Wesen einer Milchkuh auf dem Grund geht und dabei in einem Spiel aus Licht und Schatten den Raum für Interpretationen weit offenlässt. Das liegt auch an der einfühlsamen und großartigen Kameraarbeit von Magda Kowalczyk. „Nach einiger Zeit war Magda schon beinahe selber eine Kuh geworden“, scherzte Andrea Arnold im anschließenden Filmgespräch. Die Regisseurin und ihr Team wirken mit „Cow“ als Dolmetscher und übersetzen zumindest scheinbar die Gedanken und die Sprache der Kühe für das Publikum.
Dabei werden, wie auch in Arnolds Spielfilmen (zuletzt American Honey, 2016), ihre Liebe und ihr Respekt offenbar, welchen sie sowohl ihren Figuren als auch ihren Darstellern gegenüber empfindet. Dabei verfällt Arnold in ihrer mal flirrenden, mal klaren Bildsprache nie in (ungewollten) Kitsch. Dass sie sich vor bewusstem Kitsch als Stilmittel nicht scheut, zeichnet sie in ihrer Freiheit als Filmschaffende aus. Andrea Arnold ist eine intelligente Frau mit einem feinen Sinn für Humor, die ihre Arbeit mit Ernsthaftigkeit und Leidenschaft betreibt. Vor der Vorführung offenbarte sie den Zuschauern im Saal, „Cow“ sei ihr eine Herzensangelegenheit. Das sieht man!
Auf jede Frage gibt es mindestens eine kluge Antwort
Im anschließenden Filmgespräch stand Andrea Arnold dem faszinierten Publikum im kleinen CinemaxX Saal 3 Rede und Antwort. Dabei hielt sie sich betont zurück mit ihrer eigenen Einstellung zum Milchkonsum und zur konventionellen Viehzucht und überließ den Umgang mit der Thematik den Zuschauerinnen und Zuschauern. Und so ergaben sich im Gespräch ganz unterschiedliche Sichtweisen auf „Cow“. Während einige der Dokumentation eine feministische Botschaft abringen wollten, sahen andere darin ein Plädoyer für Veganismus. Wieder andere verglichen Arnolds Arbeit mit den Tieren mit ihrer vorherigen Beschäftigung nicht-professioneller Schauspieler in den Spielfilmen und wollten technische Hintergründe zum Werk erfragen.
Souverän und mit Witz gab die Britin kluge Antworten und zeigte sich erfreut über die individuellen Eindrücke, die jeder für sich aus dem Film herauszuziehen schien. Zuletzt gab sie noch preis, dass sie den Film auch den Betreibern und Mitarbeitern der Milchfarm vorgeführt habe – ein Familienbetrieb, der weder hochleistungs-industrialisiert noch bio-konform wirtschaftet. Die Farmarbeiterinnen und Farmarbeiter bescheinigten ihr, dass der Film ja überhaupt gar nicht langweilig sei. Dem ist definitiv zuzustimmen.
Wichtig für alle, die sich dieses Meisterwerk nicht entgehen lassen möchten: „Cow“ wird am 7. Oktober um 21:45 Uhr im Passage-Kino in der Mönckebergstraße wiederholt.
Beitragsbild: Cow (2021) von Andrea Arnold © BBC Films