Filmfest Hamburg: „The Image Book“ von Jean-Luc Godard
Komplexes Ton- und Bilder-Essay über die Abbildung unserer Welt
Einmal anschauen ist nicht genug. Auch der neue Film des ewigen Kino-Rebellen Jean-Luc Godard bildet ein überaus komplexes Ton- und Bilder-Essay in fünf Kapiteln über die Abbildung unserer Welt, ihre Gewalt und Kriege, ihre Gesetze und ihre Medien.
Es ist schon eine Weile her, dass in deutschen Kinos ein neuer Film von Jean-Luc Godard zu sehen war. 1994 lief auf der Berlinale sein Selbstporträt „JLG/JLG – Godard über Godard“, und nun also sein neuestes Werk „The Image Book“ („Le livre d’image“) bei Filmfest Hamburg – zuletzt im viel zu kleinen, restlos überlaufenen Abaton. Endlich wieder Godard-Kino. Warum jetzt? Der Film kam mit der Empfehlung von den Filmfestspielen in Cannes, wo „The Image Book“ in diesem Jahr mit einem Spezialpreis der Jury und einer speziellen Goldenen Palme ausgezeichnet wurde.
„Spezielles“ Kino eines großen Rebellen
„Speziell“ ist das Stichwort für das Werk des mittlerweile fast 89jährigen Kinorebellen Jean-Luc Godard. Im Kino jedenfalls zeigte man sich überrascht vom Zuschaueransturm. Verleihern, Kinobetreibern – und ja, auch dem Großteil des hiesigen Publikums – erscheinen die Filme zu sperrig, um mit ihnen einen großen Saal zu füllen. Godard-Filme entziehen sich einer schnellen Konsumierbarkeit wie auch den gängigen Standards des Arthaus-Kinos, und erst Recht sind sie nicht mit den heute üblichen Sternchen-, Däumchen oder Pünktchenbewertungen zu erfassen. Godard, der letzte der Unabhängigen, der letzte Pionier der Nouvelle Vague, hat sich längst vom klassischen Erzählkino verabschiedet, war in Wahrheit nie ein Teil davon. Schon die ersten Filme, angefangen bei „Außer Atem“ (1959) und dann fortgesetzt in den Sechzigern in den Dramen mit Anna Karina oder Jeanne Moreau, nutzten Handlung nur noch als Beiwerk oder Genrezitat, setzten sich dafür intensiv mit der Wirklichkeit vor der Kamera auseinander – dokumentierten das Paris ihrer Gegenwart wie auch das Verhältnis von Männern zu Frauen – und sie machten mit ihren bewussten Stilbrüchen, asynchronen Schnitten, „falschen“, scheinbar improvisierten Kameraeinstellungen jederzeit klar, dass sie Film sind. Eine eigene Wirklichkeit, aber nah an der Realität. Im Hier und Jetzt. Das Gegenteil von „Traumfabrik“.
Kampf gegen die mächtigen Männer
Seinerzeit bedeutete das einen radikalen Bruch mit Erzählkonventionen, aber auch mit der ökonomischen Basis des Kinos, seinen Produktions- und Vertriebsbedingungen. Godards filmgewordener Aufstand gegen das Produzentenkino, am deutlichsten manifestiert in „Die Verachtung“ (1963), nahmen sich ganze Generationen unabhängiger Filmemacher zum Vorbild. In einem vierteiligen Artikel auf der Onlineplattform Telepolis würdigt der Autor Hans Schmid „Die Verachtung“ und andere frühe Godard-Filme ausführlich und stellt fest, dass es darin nicht nur um eine Abrechnung mit Filmproduzenten geht, sondern um die Bloßstellung eines durch und durch selbstherrlichen, männlich geprägten Machtgefüges. Ein auch sexuell übergriffiger Narzissmus, der gerade in der #MeeToo-Affäre um Harvey Weinstein einen aktuellen Auswuchs erlebte. Wer sich daraufhin „Die Verachtung“ noch einmal anschaut, wird erschreckende Parallelen entdecken.
Irritation als Stilprinzip
Viele der Godard-typischen Stilbrüche jener Nouvelle-Vague-Jahre sind immer noch irritierend. Teilweise jedoch sind sie auch vom Publikum mittlerweile akzeptiert, wurden von anderen Filmemachern in aller Welt adaptiert und variiert. Hans Schmid weist in seinem Text darauf hin, dass das Kino von Quentin Tarantino ohne Godard nicht denkbar wäre.
Immer weit voraus
Der Meister selbst wurde für die inzwischen anerkannten Verdienste um die Filmsprache 2011 mit einem Ehren-Oscar ausgezeichnet, ist aber in seiner Auffassung von Kino inzwischen längst viel weiter. Als „Experimentalfilm“ bezeichnet man das, was Godard heute macht, und es begann spätestens vor knapp zwanzig Jahren, als er 1999 nach rund zehnjähriger Arbeit seine ganz persönliche Sicht auf die Filmgeschichte präsentierte. Sein Mega-Werk „Histoire(s) du cinéma“ folgt keiner linear erzählten Geschichtsaufarbeitung, sondern ist ein rasantes Kaleidoskop von Filmausschnitten, Typo und Musik, das sich im Kopf zu einem abstrakten, ständig rotierenden Gesamtbild fügt. Eine Welt aus Bildern, Tönen und Texten, die nicht vergangen in die Ablage „Historie“ wandern oder wieder dort herausgeholt werden, sondern ganz präsent sind. Jetzt. Im Augenblick des Ansehens.
Eine Flut von Bildern, Texten und Tönen
Einen sehr ähnlichen Ansatz verfolgt nun auch „The Image Book“. Die Flut aus Bildern, Tönen, eingesprochenen und gedruckten Texten enthalten zahllose Verweise auf Autoren wie Balzac, Alexandre Dumas oder Goethe. Historische Bilder, Fotos, Spots aus Dokumentationen und Spielfilmen wechseln sich gleichberechtigt und in schneller Reihenfolge mit aktuellen Aufnahmen ab. In der Hauptsache sind es Filmausschnitte in einer solchen Vielzahl, dass man sie beim ersten Sehen nur zu einem kleinen Teil identifizieren kann. Filme von Josef von Sternberg sind zu erkennen, von Hitchcock, Fritz Lang, Jacques Tourneur, Nicholas Ray, John Ford, Renoir und, und, und… aber auch die andere Seite der Medaille: Hinrichtungsvideos des IS oder weitere Schrecknisse aus Gegenwart und Vergangenheit, die in der Zusammenstellung ihre Verwandtschaft trotz der zeitlichen Distanz ihrer Entstehung offenbaren. Eine Welt aus Gewalt und der brutalen Kontraste, in der filmischen Montage aufeinandergestoßen, mit asynchronen Kommentaren unterlegt, teils farblich verfremdet und gerade durch die Irritationen äußerst real.
Fünf Finger werden zur Hand
„The Image Book“ ist in fünf Kapitel gegliedert, die sich im Kopf zu einem abstrakten Gesamtbild von Wirklichkeit zusammenfügen wie die fünf Finger zu einer Hand. Der letzte Filmausschnitt, den Godard in sein „Image Book“ hineinschneidet, stammt aus „Pläsier“. Max Ophüls erzählt in dem Film von 1952 von einem in die Jahre gekommenen Lebemann, der sein hohes Alter hinter einer Maske verbirgt und die Pariser Nächte mit ausgelassenem Feiern verbringt. Wie ein Derwisch fegt er über die Tanzfläche, buchstäblich bis zum Umfallen. Ein ständiger Kampf gegen die zunehmende Müdigkeit. Aufgeben? In Routine verfallen? Keine Option. Das ist das Vermächtnis des Rebellen Jean-Luc Godard an uns alle.
Trailer: TIFF Trailer
Foto: copyright Wild Bunch