Filmfest Hamburg mit Debütfilm „Nancy“
Psychodrama erzählt von seelischen Schwebezuständen
Das große Abaton war immerhin gut zur Hälfte gefüllt, als Filmfest Hamburg mit dem Psychodrama „Nancy“ das Langfilmdebüt der US-Filmemacherin Christina Choe präsentierte.
Ist es schon das, was man „in prekären Verhältnissen leben“ nennt? Die Titelheldin Nancy (gespielt von Andrea Riseborough) ist Mitte dreißig, lebt allein mit ihrer Parkinson-kranken Mutter in einem winterlich-tristen Haus am Rande einer Kleinstadt im Norden der USA. Nancy hat irgendwann ein Baby verloren, kommt nicht mehr richtig auf die Füße. Sie bewirbt sich um Jobs, die Absagen sammelt sie körbeweise und im Handschuhfach ihres Autos. Eine fast unsichtbare Existenz, die Nancy mit einem Blog aufzuwerten versucht, in dem sie sich andere Identitäten zulegt und behauptet, schwanger zu sein.
Zwischen Hoffnung und Bangen
Im Fernsehen sieht sie ein Interview mit dem älteren Akademiker-Ehepaar Betty (Ann Dowd) und Leo (Steve Buscemi), das seit 30 Jahren seine Tochter vermisst. Die damals Vierjährige war seinerzeit spurlos verschwunden. Und Nancy, nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter komplett verwaist, meldet sich bei dem Ehepaar, deutet an, sie könnte die schmerzlich vermisste Tochter sein. Das Ehepaar nimmt Nancy bei sich auf, und bis das Ergebnis des Gentests eintrifft, leben alle drei Beteiligten in einer Art Schwebezustand zwischen gegenseitigem Abtasten, Hoffnung und Verlustangst.
Sehnsucht nach Ruhe
Regisseurin Christina Choe macht diese seelische Irrfahrt fühlbar. Als Zuschauer leidet man mit den Beteiligten und ertappt sich bei dem Wunsch, Nancy möge tatsächlich die vermisste Tochter sein und dann in diesem wohlbehüteten Haus zusammen mit den Eltern zur Ruhe kommen. Ein unspektakuläres, aber tief ins Innerste zielende Langfilmdebüt der Filmemacherin, die bislang nur mit einigen Kurzfilmen auf sich aufmerksam gemacht hat (zuletzt 2011 mit „I Am John Wayne“).
Die Komplexität menschlicher Psyche
Beim renommierten Sundance –Filmfestival gab es für „Nancy“ den Preis für das beste Drehbuch, und tatsächlich würde man sich für die Optik des Films ein wenig mehr Luft gewünscht. Die Kamera klebt beständig an den Gesichtern der Protagonisten, um deren seelischen Zwiespalt einzufangen, und Dialoge werden überwiegend in Schnitt-Gegenschitt-Montage gefilmt. Schade, denn das dramaturgische Element der Großaufnahme wird durch den inflationären Einsatz entschärft, und ein wenig mehr Vertrauen in den filmischen Raum, in die Kunst der Schauspieler und in die Aufmerksamkeit des Publikums hätte „Nancy“ gut getan. Aber auch so entlässt einen der Film am Ende mit einem Gefühl leichter Unruhe und der Gewissheit, etwas über die Komplexität menschlicher Psyche dazugelernt zu haben.
„Nancy“ wird im Festivalprogram am Samstag, den 6. Oktober um 22:30 im Cinemaxx 3 noch einmal gezeigt.
Foto: ©Cercamon