Neu im Kino: „The Florida Project“
Ein Film für alle, die Kinder lieben
Für die Bewohner einer billigen Motel-Anlage im Schatten von Disneyworld ist das Leben alles andere als leicht – aber aus der Perspektive einer aufmüpfigen Sechsjährigen erscheint auch die Schattenseite des Sonnenstaates Florida als großer Abenteuerspielplatz.
Beim Klang des Wortes „Florida“ denken wir hierzulande zuerst an Sonne, Strand – und natürlich an die großen Themenparks in Orlando: Disneyworld, Universal Resort oder Sea World. Weniger im Fokus waren bislang die Menschen, die in diesem vermeintlichen Familienparadies ihre Existenz bestreiten. Die sind keinesfalls alle auf Rosen gebettet, wie wir jetzt im neuen Kinofilm „The Florida Project“ sehen können. Die liebevoll gestaltete Dramedy des US-Filmemachers Sean Baker erzählt vom Leben in einer billigen Motel-Anlage, wenige Kilometer vor Disneyworld an der Route 192 gelegen. Die Unterkünfte, Souvenirshops und Einkaufszentren an der Durchgangsstraße sind ganz im bunten Zuckerbäckerstil des Ferien-Universums gestaltet, aber nur selten verirren sich Touristen in das leuchtend pink angestrichene Motel, in dem die 22-jährige Halley mit ihrer sechsjährigen Tochter Moonee wohnt. Wer hier unterkommt, ist sozial schwach gestellt; Patchwork-Familien mit unterschiedlichen Hautfarben oder allein erziehende Mütter mit ihren kleinen Kindern. Die tägliche Übernachtungsrate von 39 Dollar aufzutreiben, ist für die meisten hier immer noch besser als eine monatliche Wohnungsmiete zu wuppen. Auch Halleys beste Freundin Ashley und ihr Sohn Scooty bewohnen hier ein Zimmer. Ashley hat immerhin einen Job in einem Diner und zweigt immer mal wieder ein paar Lebensmittel für die Freundin und für die Kinder ab. Halley dagegen muss sehen, wo sie das Geld für die Miete her bekommt. Sie verkauft Parfüm an Touristen – oder auch schon mal sich selbst – und sie haut den ein oder anderen Kunden übers Ohr. Das reicht dann, um Bobby, dem Verwalter der Anlage, wieder die Miete für ein paar Tage zu zahlen und dann mit Ashley abzuhängen.
Kindheit im Schatten von Disneyworld
Für Moonee und Scooty dagegen ist das alles hier ein riesiger Abenteuerspielplatz. Jeden Tag lassen sich in der Nachbarschaft viele Mutproben bestehen und allerlei Streiche aushecken. Zumal der Verwalter Bobby (Willem Dafoe) zwar streng auf die Einhaltung der Hausordnung achtet, aber doch menschenfreundlich genug ist, um den Kindern einiges durchgehen zu lassen. Als Moonee dann mit der rothaarigen Jancey noch eine neue Freundin kennen lernt, ist das Kinderparadies komplett. Frech und selbstbewusst bieten die kleinen Streuner der Erwachsenenwelt die Stirn, schießen so manches Mal über die Grenzen des Erlaubten hinaus. Von ihrer Mutter hat Moonee deswegen nichts zu befürchten. In ihrer eigenen unbekümmerten Art, die prekäre finanzielle Situation zu bewältigen (oder zu verdrängen), offenbart Halley selbst noch kindliche Charakterzüge.
Dass das auf Dauer nicht gutgehen kann, ist schnell klar. Wenn Moonee und Jancey am Ende Hand in Hand davonlaufen, erinnert das an die Schlusssequenz von François Truffauts Jugenddrama „Sie küssten und sie schlugen ihn“ aus dem Jahr 1959.
Aber anders als seinerzeit der junge Antoine Doinel laufen Moonee und Jancey nicht ans Meer. Die beiden Mädchen suchen Zuflucht in der trügerischen Traumwelt, die sie kennen: im Dornröschen-Schloss von Walt Disneys „Magic Kingdom“.
Im Spannungsfeld zwischen Spiel und Leben
Wäre „The Florida Project“ ein deutsches Sozialdrama, man hätte die Geschichte der mittellosen Motel-Bewohner vermutlich als graue Abfolge von Niederlagen und Trostlosigkeiten erzählt. Sean Baker dagegen gesteht seinen Protagonisten ihre eigene Stärke zu. Sie leben in einem Kosmos, dessen ökonomische Armut mit bunter Fassade übermalt ist und der Raum hat für zwischenmenschliche Zuneigung. Und er gibt den Kindern Freiräume, die sie in einer bürgerlichen Existenz, in der man sie tagein tagaus im SUV vom Kindergaten zum Klavierunterricht chauffieren würde, wohl nie hätten. Ein Märchen, vielleicht, gezeichnet auf der Rückseite von Disneyworld. Aber im Kino funktioniert es. Nicht zuletzt wegen der beeindruckenden Besetzung, aus der Willem Dafoe als einziger Star unter vielen großartig auftretenden Neu-Schauspielern herausragt. Die bislang völlig unbekannte Bria Vinaite spielt Halley, Mela Murder ihre Freundin Ashley.
Für beide ist „The Florida Project“ ebenso der erste Film wie für die bezaubernd selbstbewusst agierenden Kinderdarsteller Brooklyn Prince (Moonee) und Valeria Cotto (Jancey). Als gäbe es keinen Unterschied zwischen Spiel und Leben, solange man kindlich sein darf. Selbst als Erwachsener. Einfach wunderbar.
Michael Eckert